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Heft 36

Erschienen in Heft 36/37, ordinär
Ressort: Feuilleton

Wann, wenn nicht jetzt?

Harald A. Friedl

Die Normalisierung der Welt als Tourismusprojekt.

Das Universum ist die Gesamtheit aller Seinsformen, gleichsam die Wirklichkeit in ihrer Totalität, mit all ihren Widersprüchen und potenziellen Möglichkeiten. Jene, die dieses Universum in seiner Gesamtheit zu durchschauen versuchen, die „Kosmologen“, gelten für „normale“ Menschen zwangsläufig als „Ver-Rückte“, beschäftigen sie sich doch hauptsächlich mit Belangen, die jenseits einer alltäglichen, vertrauten und vor allem „be-greifbaren“ Normalität zu existieren scheinen, wenn überhaupt … Dort, in ihrer unberührbaren, abstrakten Welt, tummelt sich alles Unfassbare, Außerirdische, ja Göttliche, an dem sich selbst Wittgenstein mit seinem Tractatus die Zähne ausgebissen hatte. Denn das Unbekannte ist notwendig noch ungedacht und bleibt damit vorerst auch undenkbar, da bar jeglicher irdischer Begrifflichkeit, weshalb man „davon schweigen“ müsse: Solch geballte Jenseitigkeit vertrauter Normalität befremdet, verstört, verlangt nach
gewohnten und bewährten Mechanismen der Beschwörung, Unterwerfung, Vereinnahmung, Verwortung.

Religionen, einst vom Grazer Philosophen Ernst Topitsch als „plurifunktionale Führungssysteme“ bezeichnet, spinnen filigrane Netze von außeralltäglichen Begriffen, um nach dem Unfassbaren zu fischen, komplexe mutmaßliche Zusammenhänge mit ihren erstaunlichen Ausdrucksformen einzufangen, zu zähmen und einzubinden in die vertraute Welt. Das Undenkbare wird auf diese Weise begreifbar, durchschaubar, katalogisierbar in „gut“ und „böse“, „schön“ und „hässlich“, „wahr“ und „falsch“, „diesseits“ und „jenseits“ … und mit einem Schlag verwandelt sich, was zuvor am kalten, schwarzen Nachthimmel als anonyme Lichtpunkte glomm, wie durch Zauberhand in ein lesbares Firmament aus Wegweisern und Leitsternen. Die Welt wird geregelt und damit bewältigbar, nutzbar, urbar, ehrbar … normal!

Normalität ist das Rückgrat des Sauriers, um seinen Organismus von einer Fress- und Kotstelle zur nächsten zu bewegen. Normalität ist das Wasserglas des Goldfisches: Bedingung und zugleich Grenze seiner Handlungsfähigkeit. Die Welt lässt sich als ein Kaleidoskop von unterschiedlichsten Lebensformen verstehen, die Ausdruck ihrer jeweiligen, vielfältigen Lebensräume mit jeweils eigenen Regelstrukturen sind. Der Horizont ihrer Handlungsfähigkeit entspricht den Grenzen ihrer Welt, ihrer Normalität, ihrer „Sprache“. Jenseits dieser Grenzen vegetieren die „Wilden“ und „Barbaren“, deren Verhalten aus „zivilisierter“ Sicht abstrus, weil bezuglos, nutzlos, sinnlos erscheint. Denn zwischen „ihrem“ Handeln und „unserem“ Horizont fehlt jegliche Anschlussfähigkeit.
Ihnen fehlt jegliches Verständnis für „unsere zivilisierte“ Normalität – und umgekehrt. Sie blieben fremd, würde ihnen das „Wilde“ nicht „ausgetrieben“, ihr zugeschriebenes „moralisches Vakuum“ durch „Gutes“ angereichert werden, um sie – aus unserer Sicht – zu qualifizieren für die Aufnahme in den heiligen Kreis der herrschenden Normalität; damit sie durch einen rituellen Akt, etwa eine Taufe, Teil des „Wir“ werden können und damit „normal“. Wer oder was sie zuvor gewesen sein mochten, wird dabei spurlos ausgelöscht.

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