Es ist schon erstaunlich (und verstörend zugleich), wie lange der Mensch bereits auf Erden existiert, wie viele Jahrtausende er es geschafft hat, dieser Erde keine allzu großen Probleme zu bereiten – und wie kurz vergleichsweise die Zeit ist, in der das mit den menschengemachten Problemen nun eskaliert. Viel länger, also: sehr viel länger, bevölkert der Stör den blauen Planeten, pendelt friedlich zwischen Meer und Fluss und freut sich seines sinn- und abenteuerlichen Lebens. Dass er das inzwischen nur mehr in geringer Zahl tut, ist eines dieser menschengemachten Probleme. Störe sind Urzeittiere, knorpelige Genossen der Dinosaurier, die in Knochenpanzer gepackt beinahe unverwundbar bis zu 150 Jahre alt werden. Logisch, dass sie daher nicht oft laichen. Und dumm, dass genau dieser Laich vom Menschen als Delikatesse betrachtet wird.
Dass der Stör auf Döschen mit „russischem Kaviar“ der Marke Lemberg (sic!) prangt, ist aber nur ein Teil des Problems. Ein anderer sind regulierte Flüsse, die für den Schiffs- nicht aber für den Fischverkehr optimiert wurden. Zudem dämmen Dammbauten und andere Hindernisse die gestörte Störvermehrung ein. Pech für den Stör ist sein Leben abseits der menschlichen Wahrnehmung, die stumme Existenz in der kalten Tiefe. Und können Fische überhaupt Schmerz empfinden?
Der Störe Leid – es stört uns nicht in unseren Kreisen. Wir empfangen eben nur, was auf unserer Frequenz gesendet wird. Vor dem Turmbau zu Babel war das ja schon rein handwerklich leichter als heute, schließlich wussten alle Beteiligten in derselben (Ur)sprache zu kommu¬nizieren. Danach entwickelten sich Zeichensysteme, Kulturen, gesellschaftliche Spielregeln und – so Bernhard Horwatitsch – wer sich darin zurechtfinden wollte, bedurfte der Fähigkeit zur Unaufrichtigkeit. Kein Wunder also, dass er darin den Startpunkt des Wegs in den Abgrund sieht. Rosa Götz wiederum sieht in religiösen und ersatzreli¬giösen Gemeinschaften ein eminentes gesellschaftliches Risiko und plädiert dringend für ein „Recht auf Freiheit von Religion“. Hans Durrer wiederum nähert sich dem Thema gleich mit der Abrissbirne: „Verstörend finde ich so ziemlich alles, was heutzutage als normal gilt.“ Eigentlich verständlich. Nicht mehr als normal gilt hingegen die lange gepflegte Trennung zwischen Künstler:in und Werk in der Kunstkritik, hält Martin Gasser fest. Umso erstaunlicher, als in Zukunft – KI sei Dank – unzählige Kunstwerke schon in ihrer Entstehung ganz ohne Künstler:in auskommen werden. Ein Umstand, der Unsicherheit, Angst und Schrecken verbreitet. Zu Unrecht, meint Harald A. Friedl, und argumentiert: Das „Aufkommen der Webmaschine im auslaufenden 18. Jahrhundert verdrängte zwar das individu¬elle Weberhandwerk, die Kunst des Webens aber erblühte in neuen, vielfältigen Formen …“
Vorliegende schreibkraft fokussiert also auf die Störung, das Geräusch, das verrät, wenn etwas zwischen Sender:in und Empfang nicht in Ordnung und/oder eine Ordnung aus der Bahn geraten ist. Sie verstört vorsätzlich und versteht sich zugleich als Protokoll der Verstörung, die unserer Zeit unter-stellt wird. Nehmen Sie sich diese Zeit vor. Lassen Sie sich stören.