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Heft 43

Erschienen in Heft 43, über musik
Ressort: Feuilleton

Singen als Aufgabe

Katharina Körting

Für Sandra war das ganze Leben eine Aufgabe, unterteilt in kleine und größere Teilaufgaben. Jeder Tag war eine Aufgabe, ein großer Karren, an dem wie Waggons viele kleine Unterkarren hingen. Ihre Arbeit, Musik, die sie hörte, ihre Bewegungseinheiten – alles war eine Aufgabe. Auch Sex. Wenn die Erledigung Freude machte – umso besser, aber Freude war nicht das Motiv für die Erledigung. Das Sterben, dachte sie, wird irgendwann die letzte Aufgabe sein. Davor käme noch das Klarkommen, das sogenannte. Klar. Kommen. Bevor man ging. Aber daran mochte sie jetzt nicht denken. Jedes Gespräch mit einem Freund, jeder Kinobesuch, jeder Abend, den sie zu verbringen hatte, mit sich allein, mit den großen Kindern, mit den kleinen Sorgen oder mit anderen Menschen, sofern sie sich diesen gewachsen fühlte (eine interessante Umschreibung, fand sie: „sich gewachsen fühlen“), denn der Umgang mit Menschen war seinerseits eine Aufgabe, bei der es unendlich viele Möglichkeiten gab, Fehler zu machen. Fehler zu vermeiden und sich gewachsen zu fühlen, waren ebenfalls Aufgaben. Auch die sogenannte Liebe war eine Aufgabe. (Sie dachte „die sogenannte Liebe“
und kam sich lässig dabei vor – aber von ihrer Abgebrühtheit war sie selbst nicht überzeugt, denn natürlich glaubte sie fest an die nicht nur sogenannte Liebe, sonst hätte sie sich das Ganze ja schenken können.)

All diese Aufgaben stellten sich unaufhörlich in Sandras Lebensweg. Sie beschäftigte sich mit ihnen, um weiterzukommen, denn das schien das Ziel all der  Aufgabenbewältigung zu sein: vorwärts und aufwärts. „Kommst du gut voran?“, fragte man – nicht etwa „Schwingt es in dir?“ oder „Drehst du dich schön im Kreis?“. Sogar die scheinbar harmlose Frage „Wie geht es dir?“ schien nach vorne zu drängen. Sandra hatte das Nachvornedenken verinnerlicht, hatte es in jeder Körperzelle  abgespeichert, nach vorne und aufwärts musste es gehen, und weil das für eine über 50-Jährige eine Lüge war, ging es irgendwie nicht weiter. Sie steckte fest. Oder sie schob sich in sich zusammen, kreiselte, zuckte auf der Stelle, am falschen Bahnhof, auf dem kein Zug mehr fuhr.

 

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