Das Wenden als trickreiche, ambivalente und risikoreiche Tätigkeit.
Etwas zu wenden hat zumeist den Grund herauszufinden, was sich dahinter befindet – was befindet sich auf der Rückseite, wie beim „Memory“, bei dem man sich die Position zweier gleicher Kärtchen merken muss? Was befindet sich unter diesem Stein? Vielleicht ist es kein Zufall, dass dieses Wenden, Umdrehen etwas mit Kinderspielen zu tun hat, ist es doch von Neugier gekennzeichnet. Wer etwas umdreht, muss auch zulassen und offenlassen, was dadurch der Welt hinzutritt. Doch nicht immer kommt etwas zum Vorschein, nicht immer steht auf der Rückseite eines Blattes Papier auch etwas geschrieben. Unter manchen Steinen befindet sich einfach nichts, was wir nicht erwartet hätten. Etwas zu wenden hängt also immer auch mit einem Erwartungs- und Wissenshorizont zusammen. Und der Handlung, etwas zu wenden, geht zumindest der Wunsch voraus, wissen zu wollen, was sich dahinter befindet, auch, wenn es sich um eine enttäuschende Entdeckung handeln mag. Die große Frage, die sich dabei auftut, ist, was es bedeutet, durch eine Wende, eine Wendung, „etwas“ zu „entdecken“? War „es“ immer schon da, oder entsteht es erst, indem es gewendet wird? Macht das Wenden also etwas sichtbar oder stellt es etwas her? Bruno Latour hat dieselbe Frage gestellt: „Aber gab es nicht schon Fermente [und die sie erzeugenden Mikroorganismen, Anm. d. A.], bevor Pasteur sie gestaltete?“ Und er hat eine eindeutige Antwort darauf: „Nein, sie existierten nicht, bis er daherkam.“ Wie verhält es sich aber mit den amerikanischen Kontinenten, bevor sie „entdeckt“ wurden? Widerspricht dieses Verdikt Latours nicht unserer Vorstellung von den Dingen der wirklichen Welt, von denen wir erwarten, dass sie entweder nirgends und niemals oder aber immer schon und überall existieren?
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