Braucht es zum Wandel eine Krise als Impuls? Liebhaber österreichischer Weinkultur werden dem jedenfalls zustimmen. Der sogenannte Glykolskandal war hierzulande bis jetzt das beliebteste Beispiel für die Wiederauferstehung einer ganzen Branche.
Umgelegt auf den durch die Corona-Pandemie ausgelösten Shutdown zu Beginn des Jahres 2020 müsste das heißen: Après-Ski ist abgesagt.
Die Arlbergregion und später ganz Tirol stellen sich gänzlich neu auf, entdecken Nachhaltigkeit und sanften Tourismus. Außerdem wird nicht nur die vollständige Produktionskette medizinischen Notfall-Equipments ins nationale Hoheitsgebiet
verlagert sondern auch die Landwirtschaft umgestellt: Dinge werden im Land produziert (oder angebaut) UND verpackt (gewaschen/geschält), niemand kommt mehr auf die Idee, sie dafür per Schiff oder LKW um den Globus zu schicken. Es gibt faire Löhne für systemkritische Jobs, auch wenn diese mehrheitlich von Frauen ausgeführt werden, die nicht in Österreich geboren sind, außerdem werden weitreichende Maßnahmen gegen das chronische Prekariat im Kulturbereich installiert und/oder ein bedingungsloses Grundeinkommen. Womit wir langsam aber sicher die komfortable Optimismuszone verlassen: Gentechnik und Big Data gewinnen weiter an Gewicht, autoritäre Regierungsformen und -stile an Unterstützern.
Die vorliegende Ausgabe der schreibkraft wurde redaktionell Ende Jänner finalisiert. Als die Texte für dieses Heft verfasst wurden, dachten wir beim Stichwort „Wende“ daher zuerst einmal an 1989 – oder an die Klimakrise, die nach einer radikalen Kurskorrektur schreit. Dann kam SARS-CoV-2/ COVID-19. Wir sitzen – natürlich zuhause – im Auge des Orkans und wissen nicht recht, was dieser für die Zukunft bedeutet Wenn Sie, liebe Leserinnen und Leser, diese schreibkraft in Händen halten, wurde das Thema „bitte wenden“ von den Geschehnissen neu kontextualisiert – und in seiner Brisanz für die größeren Zusammenhänge, derer wir uns schon traditionell gerne annehmen, noch einmal unterstrichen.
Krise, Dystopie und Klimawandel – diesen unlängst noch visionären Stichwortkatalog verknüpft also Philosoph und Tourismusforscher Harald A. Friedl zu einem Essay über die „irrende Suche der Dystopisten nach dem rechten Weg zurück ins nachhaltige Paradies“. Von Blockwart-Mentalität und sozialer Autokorrektur erzählt Katharina Körting anlässlich der Frage „Warum es unterm Joch der Klimakorrektheit wenig zu lachen gibt“ – auch ein Déjà-vu- in Zeiten der Pandemie. Die Gedanklichkeit der Isolation nahm Dirk Werner mit dem Text „Emanzipation, innerzimmerliche Wende“ vorweg. Reinhard Brauns Text „Gegen das Vergessen“ feiert den Akt des Wendens als Grenzüberschreitung in Richtung Auf- und Entdecken, wie und wann das durch historische Utopien in die Welt als Wille und Vorstellung eingeschrieben wurde, erzählt Bernhard Horwatitsch mit einer „Reise in die vergangene Zukunft“. Franziska Bauer ergänzt „Bemerkungen zur Notwendigkeit von Visionen“. Außerdem thematisiert werden biografische Wendepunkte (Christian Pape und Michael Helming), unnützes Wissen über die B-Seite (Wolfgang Pollanz), die eigenartige Kommunikationsmechanik von Männerrunden (Doris Neidl), wenig wahrgenommene politische Wendezeiten in Afrika (Jennifer Weiss) und – endlich – eine Reihe kritischer Fragen zum gegenwärtigen Blick auf die DDR und den 9. November 1989 (Doris Claudia Mandel).
Die Redaktion wünscht viel Vergnügen bei der Lektüre!