Von der Poesie der Tiere
Zsuzsa Selyem vertreibt sich die Zeit mit Fabulierkunst.
Als Istvan Beczásy auf seinem Gut in Háromszék zwei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine Jagd ausrichtet, blickt seine Familie auf eine beachtliche Vergangenheit zurück. Bereits im Jahr der Französischen Revolution findet sein armenischer Ahne Emánuel als berühmter Pferdezüchter Erwähnung in adeligen Korrespondenzen. Ähnlich verhält es sich mit Istvan. Niemand Geringerer als der Finanzminister des Staates Rumänien initiiert diese Jagdgesellschaft.
Zsuzsa Selyem erzählt in elf Episoden eine mehr als zweihundert Jahre umfassende Familiengeschichte in Siebenbürgen. Istvan Beczásy, seine Frau Zina und seine beiden Töchter repräsentieren die ungarische Bevölkerung im Grenzgebiet zwischen Ungarn und Rumänien. Verhandelt werden verschobene Grenzen und verschleppte Menschen. Die Autorin navigiert mit dem Präzisionsinstrument der Poesie durch die Unübersichtlichkeit der Ereignisse. Die elf Geschichten über die Familie Beczásy folgen einer eigenen Chronologie. Das zeitweilige Chaos von historischen Begebenheiten spiegelt sich in der Anordnung der Erzählungen. Dennoch sind ihre Längen- und Breitengrade exakt ausgerichtet. Zsuzsa Selyem erzählt in großem Bogen von der Geschichte, der Landschaft und dem Gefühl der Verlorenheit zwischen Macht und Ohnmacht. Gut und Böse folgen der archaischen Struktur der Welt der Fabel. Konsequent bekommen Tiere eine Erzählstimme. Ein Wald erscheint aus der Perspektive einer Amsel immer gewaltiger und gleichzeitig überschaubarer. Eine Schleiereule als Erzählende ist unbestechlicher als ein Onkel von Istvan, der es bei Gänseleber und Beluga-Kaviar im Moulin Rouge so richtig krachen lässt. Anlass sind gefälschte Francs. Die Ursache für diese historische Tatsache liegt im Jahr 1918. Siebenbürgen wird nach dem Ersten Weltkrieg Teil von Rumänien. Die Beamten ungarischer Herkunft verweigern den neuen Machthabern den Eid, daher bezahlt sie Rumänien auch nicht. Ungarn erklärt sich großzügig bereit, „seine Landsleute“ zu unterstützen. Da Geld knapp ist, wählt man einen ungewöhnlichen Weg. Bezahlt werden die Beamten mit gefälschten französischen Francs. Bandy Beczásy transportiert das bedruckte Papier. Als Kurier ist er unbestechlich, ansonsten vergisst er gern bei Kaviar und Champagner. Onkel Bandy mit seinen glänzend polierten Schuhen wird von Istvan wieder zum Leben erweckt, als er selbst dem Tod nur knapp entkommt. Das Konstrukt der Gutsherrn und Gutsverwalter wird von den kommunistischen Machthabern letztendlich abgeschafft. Die Familie wird in die Dombrudscha, eine unwirtliche Gegend an der Grenze zu Bulgarien, verschleppt. Hier wird Istvan beinahe von der Securitate ermordet. Zeit seines Lebens wird er seiner Frau Zina nichts von Folter und Leid berichten.
Zsuzsa Selyem erzählt eine Geschichte des Grauens mit den Mitteln der Poesie und Fantasie. Mutig spart sie viele historische Ereignisse aus. Der schmale Band ist dennoch eine minutiöse Beschreibung der Auswirkungen von Verfehlungen der Menschheit. Der beinahe hundertjährige Istvan ist ihr Chronist. Während er auf seinen runden Geburtstag wartet, vertreibt sich Zsuzsa Selyem die Zeit mit unendlicher Fabulierkunst. Es treten der Deutsche Schäferhund Lux und eine römische Katze auf. Beide erfüllen ihre Klischees nicht. Ein wenig ist es, als ob die Autorin schelmisch die Spuren verwischt, die sie mit Akribie und Fantasie legt.
Meines Wissens ist es nie geglückt, eine Wanze, eine gemeine Bettwanze, eine Geschichte erzählen zu lassen. Die Wanze an und für sich spielt bis heute eine bedeutende Rolle in repressiven Systemen. Zsuzsa Selyem verleiht diesem Umstand eine Stimme. Aber sämtliche hier konstruierten Zusammenhänge könnten auch ein Zufall sein. Wie so vieles in der Geschichte. Zufällig lässt sich ein Witz mit dem Titel des Romans „Regen in Moskau“ in Verbindung bringen: Jemand ruft bei Radio Eriwan an und fragt nach, weshalb Ana Pauker bei Sonnenschein mit einem Regenschirm durch Bukarest läuft. „Weil es in Moskau regnet“, ist die schnelle Antwort. Ana Pauker war von 1947 bis 1952 Außenministerin Rumäniens. Die „rote Ana“soll mehr als nur die Zugehörigkeit zur selben Regierung mit dem Finanzminister verbunden haben. Jenem Minister, der einst auf dem Gut von Istvan Beczásy auf die Jagd ging. Ach ja, Hasen wurden gejagt.