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Heft 36

Erschienen in Heft 36/37, ordinär
(Doppelnummer 36/37)
Ressort: Rezensionen

Tonio Schachinger:
Nicht wie ihr

rezensiert von Heimo Mürzl

Der Käfigkicker

Ein unwiderstehliches Solo auf der Schreibmaschine: Tonio Schachingers Debütroman „Nicht wie ihr“.

Wer keinen Bugatti hat, kann sich gar nicht vorstellen, wie angenehm Ivo gerade sitzt. Tonio Schachinger gewährt dem Leser in seinem Debütroman Nicht wie ihr Einblick in das Leben eines Fußballstars.

Ein Leben zwischen Lifestyle, Leistungssport und Liebeskummer. Schachingers Kunstgriff, seinen Romanhelden mit einer personal-auktorialen Erzählstimme auszustatten, erhöht nicht nur den Unterhaltungswert, sondern verleiht der Geschichte von Ivo Trifunovic auch Glaubwürdigkeit. Ivo, so will es sein Autor, hat es vom klassischen Käfigkicker bis in den goldenen Käfig eines englischen Premier-League-Vereins geschafft. Er spielt beim FC Everton eine ebenso wichtige Rolle wie im Zusammenspiel mit seinen Spielerkollegen David Alaba und Marco Arnautovic in der österreichischen Nationalmannschaft. Das virtuose Spiel mit real existierenden Personen – neben Alaba und Arnautovic haben auch Timo Werner, Leon Goretzka, Stefan Maierhofer, Didi Constantini und Peter Hackmair ihre „Gastauftritte“ – macht einen Reiz dieses Romans aus. Das nicht minder virtuose Spiel mit Klischees und Fehleinschätzungen einen weiteren.

Mit unverwechselbarem Sprachsound, stimmigem Lokalkolorit und großer Milieukenntnis – Schachinger stattet seinen in Wien-Floridsdorf aufgewachsenen Romanhelden mit einer  uthentisch-derben Sprache aus (Fut, Oida, blad, pudern, Hurenkinder, Tschusch, Pappn) – gelingt Schachinger ein „Fußballroman“, der sich auf das Leben abseits des grünen Rasens  konzentriert. Dieser Roman gleicht einem unwiderstehlichen Solo auf der Schreibmaschine: Wie Schachinger seiner holzschnittartigen Symbolfigur Ivo Trifunovic literarisches Leben einhaucht und ebenso gekonnt wie höchst amüsant aus dem Käfigkicker mit Macho-Allüren einen komplexen Charakter mit Sinnkrisen entwickelt, begeisterte auch die Jury des Deutschen Buchpreises, die den Debütroman auf die Shortlist setzte.

Die extreme Ambivalenz des Romanhelden macht ihn zugleich angreifbar wie sympathisch, liebenswürdig wie widersprüchlich. Ivo ist ein Familienmensch, der sich seiner Herkunft bewusst ist – wir erleben ihn aber auch als arroganten Fußballprofi, der Journalisten grundsätzlich für „vertrottelt“ hält und sie alle als „Medienfuzzis“ bezeichnet. Er kümmert sich um seine Kinder auf geradezu rührende Weise, fährt aber sehr gerne und stets mit überhöhter Geschwindigkeit eines seiner fünf Autos. Auch außereheliche Affären gehören für ihn zum Standardleben eines Fußballprofis. Manchmal steht man im Leben rascher im Abseits als auf dem Fußballfeld – diese Erfahrung macht auch Ivo. Er wirkt in seinem einmal halbseidenen, einmal grobschlächtigen, dann wieder liebenswürdigen und einfühlsamen Auftreten wie ein repräsentativer Vertreter eines ganz eigenen Biotops. Er zählt zu jenen, die es aus den proletarischen Fußballkäfigen in die goldenen Profikickerkäfige geschafft haben. Obwohl Schachinger seine Romanfiguren zum Teil sehr holzschnittartig mit vielen Klischees ausstattet – Ivos Frau Jessy ist blond, tätowiert und die Schönheitschirurgie ist ihr nicht fremd und er selbst liebt neben seinen fünf Autos auch billig produzierte Amateurpornos –, gelingen ihm einfühlsame Einblicke in das Innenleben eines  Fußballprofis, dessen privilegiertes Dasein ihn nicht vor Burn-out-Attacken und Depressionsschüben schützt. Der bekannte Satz von Albert Camus „Alles, was ich über Moral und  Verpflichtungen weiß, verdanke ich dem Fußball“ mag vielleicht ein wenig übertrieben klingen. Einen ebenso bekannten Friedrich-Hebbel-Satz kann man aber gerne ein wenig abwandeln und davon sprechen, dass die große Welt in der kleinen Fußball-Welt ihre Probe hält. Das weiß auch Tonio Schachinger und flicht in seinen Fußballer-Roman allgemeingültige Themen wie Migrationshintergrund, Identitäts- und Integrationsfragen, Rassismus, Geschlechterbilder, Framing und Selbstoptimierung auf kluge und unterhaltende Weise ein. Dass das internationale
Fußballgeschäft das Paradebeispiel für sämtliche Fehlentwicklungen und Auswüchse des Kapitalismus darstellt, wird ebenso auf nonchalante Weise angesprochen wie die manipulative und den Status quo festigende Rolle der (Mainstream-)Medien. Klug, witzig, frech, politisch unkorrekt und immer ohne erhobenen Zeigefinger werden auch die Themen Migration, Integration und Alltagsrassismus stimmig in den Erzählfluss integriert: „Und überhaupt, wenn je ein Land dankbar für seine Ausländer sein sollte, dann Österreich. Man muss ja nur nach Deutschland schauen, um zu sehen, wie Österreich rundherum geworden wäre, wenn rundherum nicht Tschechn, Jugos und Ungarn gelebt hätten, sondern andere Kartoffeln. Es gäbe keine gescheiten Knödel, keine schönen Leute und keine gute Musik. Österreich ohne Migranten wäre genauso fad wie Deutschland.“

Tonio Schachinger gelingt in seinem Debütroman das große Kunststück, scharfsichtige Beobachtung und hellsichtige Analyse in einen lese(r)freundlichen und vergnüglichen Roman mit viel authentischem Schmäh und treffsicherem Witz zu verpacken.

Rezensionen

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Werner Fiedler:
Die Apokalypse des frommen Jakob

2024: edition kürbis, S. 243
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Zeuge gegen Jehova Werner Fiedler wollte ein Drehbuch über seine Kindheit in einer Sekte schreiben. Es ist ein dichtes Buch geworden Jakob wächst mit seiner Mutter Monika auf, die die

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Differenzwiederholungen vom Feinsten „loop garou – invokationen“ – diesen Titel trägt Stefan Schmitzers neuer Lyrikband – und jenes besondere Wortspiel zu Beginn, das einerseits auf den französischen Werwolf („loup garou“),

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Priya Guns:
Dein Taxi ist da

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Rezension: Eine Taxifahrt durch Welten Wie der Titel bereits ankündigt, erwarten Sie hier bestimmt eine klassische Rezension – und ich verspreche, die kommt auch noch – aber einleitend muss ich

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Kulturinitiative Kürbis Wies (Hg.):
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rezensiert von Hermann Götz

Der Geist von Wolfgang Bauer … … zu Gast in der schreibkraft-Redaktion. Mit einem Open Call for Minidramen hat die Edition Kürbis einen Coup gelandet: Über 160 Einreichungen zelebrierten vor

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Günther Kaip:
Rückwärts schweigt die Nacht

2022: Klever, S. 140
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Vergessen, surreal erinnert Günther Kaip verdichtet Lyrik, Prosa und Zeichnungen zu einem traumhaften Ganzen. „Rückwärts schweigt die Nacht“ – der Titel verräumlicht gewissermaßen, was beim Vergessen mit der gelebten Zeit

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rezensiert von Hermann Götz

Dreizehn Sabine Haupts Erzählband „Die Zukunft der Toten“ macht Stippvisite auf der dunklen Seite des Mondes. „Jemand musste ihn verraten haben, oder verleumdet, vielleicht auch nur verwechselt.“ Kommt Ihnen bekannt

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Sarah Kuratle:
Greta und Jannis

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rezensiert von Hermann Götz

Vom Anfang oder Ende der Zeit Sarah Kuratles märchenhaft dichter Roman Greta und Jannis. Sarah Kuratle hat ein Märchen geschrieben. Oder nein: einen Roman. Einen ganz und gar märchenhaften. Die

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Markus Köhle:
Zurück in die Herkunft

2021: Sonderzahl, S. 208
rezensiert von Hermann Götz

Best of Poetry Markus Köhle wird in Zurück in die Herkunft zum Plagiatsjäger seiner selbst. Ok, über Slam-Poetry bedarf es hier keiner großen Worte. Dass Poesie als performative Kunst gelebt

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