Die Macht der Dunkelheit
Gerhard Jäger nimmt sich in seinem zweiten Roman schwerer Themen an.
„Er weiß nicht, ob er sich jemals in seinem Leben so geschämt hat wie in diesem Moment, als ihn seine Großmutter in der Tür erwartete, ihn, mit blutender Nase, ihn, mit nasser Kleidung aus dem Aufruhr dieser Nacht kommend. (…) Natürlich konnte die Großmutter daraus nicht schließen, dass sich seine Hand in der Menge gehoben, dass er eine Fackel auf das Windrad geworfen hatte. Aber sie schien zu wissen, wo er gewesen war, dass er Teil einer Masse geworden war, die nichts Menschliches mehr an sich hatte.“
Ein namenloser Soldat in einem namenlosen Ort in einem namenlosen Land. Hier verrichtet er seit einiger Zeit seinen Dienst, hält Wache auf einem Turm vor der Grenze. In dieser Nacht aber ist da etwas, ist da jemand auf der anderen Seite des Zauns, ein Mensch mit einer Geschichte. Und da ist auch etwas im Soldaten, das nicht länger ruhen kann. Es sind seine Erinnerungen an eine Zeit vor diesem einen Nachmittag in diesem einen Sommer, der sein Leben für immer veränderte …
So wie die Menschen hinter dem Zaun auf der Flucht sind vor Krieg, Hunger und Elend, ist auch der Soldat ein Davonlaufender: Er flieht vor seiner Erinnerung, vor seinem Schicksal, vor der Schuld. Doch in dieser Nacht gibt es kein Entkommen. Wir begleiten ihn vom Beginn seines Dienstes abends um neunzehn Uhr Stunde um Stunde durch die Nacht, von der Dämmerung in die totale Dunkelheit, durch Regen und Kälte bis ins Morgengrauen, sein Gewehr wie eine Geliebte immer nah bei sich. Und wir begleiten ihn durch die Gedanken von der Zeit, als er als Kind das erste Mal eine Spielzeugwaffe in der Hand hielt, über Momente des vollkommenen Glücks durch Trauer und Angst und Verlust bis in jene Tage, in denen die Fremden im Dorf ankamen. Doch da ist noch mehr: In dieser Nacht taucht der Soldat auch erstmals in die Erinnerungen seiner Großmutter ein, die als 14-Jährige, nach dem Krieg vertrieben, ebenfalls aus ihrer Heimat fliehen musste. Es sind schwere Themen, deren sich der Vorarlberger Autor Gerhard Jäger in seinem zweiten Roman annimmt. Doch schwer machen die Erzählung auch Symbolik und Poetik. Seite für Seite trifft den Leser mit voller Wucht, mit aller bildlichen und sprachlichen und erzählerischen Gewalt – und manchmal ist das zu viel, so wie auch dem Soldaten im Laufe der Nacht alles zu viel wird.
Dennoch: Wer sich auf die Geschichte einlässt, wird unweigerlich hineingesogen in die bedrückenden Gedanken des Protagonisten, fühlt und leidet mit diesem gebrochenen Mann – und spürt noch lange die Nachwirkungen des Texts. All die Nacht über uns ist ein intensives, ein kluges, ein wichtiges Buch in der heutigen Zeit. Der Lohn: eine Nominierung für den Österreichischen Buchpreis 2018. Im November desselben Jahres ist Gerhard Jäger mit nur 53 Jahren an den Folgen einer Gehirnblutung verstorben. Sein Appell für Menschlichkeit und Mitgefühl aber bleibt. Denn „vielleicht sind wir alle auf der Flucht, Flüchtende wir alle, alle flüchtig“.