x
Anfrage senden

über musik

There’s more to the music than meets the ear! (frei nach Neil Young)

Heft 43

schreibkraft - das feuilletonmagazin

über musik

Robert Zimmermann kann nicht gut singen. Mundharmonika und Gitarre spielt er auch nicht soooo toll. Aus diesem Grund hat er auch den Literaturnobelpreis bekommen. Und nicht den Polar-Music- oder den Kyoto-Preis (oder gar die Romy). Die Frage ist nur: Wären seine Texte auch ohne ihre musikalische Form und Vermittlung  nobelpreiswürdig? Eine
Frage, die Literaturkritik und Fangemeinde wahrscheinlich
auf Jahrzehnte hinaus zu  gleichen Teilen beschäftigen
wird – und die wir im  vorliegenden Heft auch keinesfalls beantworten.

Hermann Götz und Andreas R. Peternell

Musik ist Trumpf

Robert Zimmermann kann nicht gut singen. Mundharmonika und Gitarre spielt er auch nicht soooo toll. Aus diesem Grund hat er auch den Literaturnobelpreis bekommen. Und nicht den Polar-Music- oder den Kyoto-Preis (oder gar die Romy). Die Frage ist nur: Wären seine Texte auch ohne ihre musikalische Form und Vermittlung nobelpreiswürdig? Eine Frage, die Literaturkritik und Fangemeinde wahrscheinlich auf Jahrzehnte hinaus zu gleichen Teilen beschäftigen wird – und die wir im vorliegenden Heft auch keinesfalls beantworten.

Denn schließlich ist die schreibkraft weder Literatur- (wie wir schon in der Vorrede des letzten Hefts ausgeführt haben) noch Musikzeitschrift! Was uns aber natürlich nicht daran hindert, uns mit diesen beiden Kunstformen und deren Schnittmengen immer wieder zu beschäftigen.

Hier und jetzt also: mit Musik. Mit lauter und leiser, geliebter und gehasster Musik, mit veränderten Verhältnissen und mit der Frage, warum ein- und derselbe Sound Leben bedeuten kann oder eben nur Lifestyle. Wie konnte Musikgeschmack für Generationen Identität und soziale Heimat bedeuten, wenn er sich heute von einem simplen Algorithmus weit besser identifizieren lässt? Wie kommts zum Megatrend ehemalige-Popstars-schreiben-plötzlich-Bücher?

Einerseits sicherlich aus Vermarktungsgründen, bringen Popstars doch im Idealfall homogene Fangruppen und vielbespielte Social-Media-Kanäle mit. Was sie dann schreiben ist oft sekundär. Bei anderen wieder ist schon seit jeher die literarische Qualität in ihren Texten eingeschrieben (siehe oben). Der wichtigsten Vertreter der zweiten Spezies ist zweifellos Hans Platzgumer, der dieses Heft eröffnet, dabei problemlos Guy Debord und David Guetta zusammendenkt und unmissverständlich klarstellt: „Die größte Herausforderung ist es wohl, im Laufe eines  Menschenlebens nicht zum Nostalgiker zu verkommen. Jeden Morgen mache ich mir aufs Neue bewusst, dass früher die Dinge nicht besser waren. Bis zum Abend ist diese zarte Einsicht wieder aufgebraucht. Ich muss sie mir am nächsten Morgen erneut in Erinnerung rufen.“ An dieser Challenge beteiligen wir uns sehr gerne – auch weit über musikalische Aspekte hinaus!

Weiter geht’s mit Klassikern. Noch einmal Bob Dylan: Doris Neidl war auf einem seiner Konzerte („Ich glaube mich zu erinnern, dass er in einer Tour vom Sessel heruntergefallen ist.“) gesteht aber vor allem, dass sie Kulturveranstaltungen am allerliebsten allein besucht. Hans Koppelredder räumt im Interview ein, dass er als der Beatles-Blockwart wohl so manche Karriere von hoffnungsvollen Coverbands frühzeitig zerstört hat, und Doris Claudia Mandel berichtet von den Jahren ihrer Zusammenarbeit mit Mikis Theodorakis. Wolfgang Pollanz wiederum arbeitet sich an einer, in popkulturellen Zusammenhängen so häufig aufkommenden, Verschwörungstheorie ab: Nein, Paul McCartney ist nicht als 28jähriger verstorben. Abgerundet wird das Heft mit literarischen Texten von Daniel Wisser, Sibylle Severus und Peter Campa sowie ausgewählten Songtexten, die Sie auf ihre literarische Qualität hin überprüfen können.

Hans Platzgumer

Now and Then

Acht Momentaufnahmen.

1. Now:

Taylor Swift ist der größte Popstar, den die westliche Welt derzeit zu bieten hat. Die 34-jährige Pop- und Countrysängerin aus Pennsylvania hat 300 Millionen Tonträger verkauft, Milliarden über Milliarden Clicks auf den Streamingplattformen erreicht, ihre Welttournee führt durch hunderte ausverkaufte Stadien und überragt die Beatlemania der 1960er Jahre bei Weitem. Sogar wenn Taylor Swift nur als Gast eines Events angekündigt ist, wie kürzlich beim Super Bowl in Las Vegas, sorgt sie für Hysterie rund um den Globus. Das U.S.-Magazin Time hat sie vor Putin, Trump oder Barbie zur Person des Jahres 2023 gekürt. In der Begründung hieß es, Swift habe einen Weg gefunden, Grenzen zu überschreiten und eine Quelle des Lichts zu sein. Ihr Überstrahlen alles anderen drückt sich auch dadurch aus, dass sie vier Grammys hintereinander für das beste Album des Jahres erhielt. Taylor Swift ist, das steht fest, ein Phänomen, ein Spektakel, ein Stern am Himmel wie keiner zuvor.

Bis in meinen Orbit aber reicht das Swiftsche Licht nicht hinein. Zufällig, etwa im Supermarkt oder Autoradio, höre ich wohl hin und wieder eines ihrer Lieder, aber diese Nummern fallen mir nicht auf, nichts von ihnen setzt sich in mir fest, sie sind zu gefällig, nicht unterscheidbar von tausenden anderen Produktionen. Genau das ist Swifts Zaubertrick. Sie produziert Musik von hoher Professionalität und Belanglosigkeit, die so austauschbar ist, dass jeder Mensch sofort das Gefühl hat, er kennt sie bereits. Und was der Mensch kennt, das mag er nunmal. Ähnliches gilt für ihr Auftreten, ihre Message, ihren Look. Swift spricht sowohl Trump-Fans wie Wokeness-Verfechterinnen an, junge Hipster wie alte Rednecks, mir aber bleibt nicht einmal ihr Aussehen haften.

Das Markenzeichen eines guten Models war es immer, möglichst neutral und oberflächlich auszusehen, hübsch aber ohne erkennbare Tiefe, rein Fläche zu sein, um in die eine oder andere Richtung modelliert werden zu können. Doch Popstars? In meiner Weltsicht waren sie stets mit irgendeinem Talent und einer Einzigartigkeit ausgestattet, etwas das man lieben oder hassen aber nicht sogleich einfach vergessen konnte. Heute scheint es sich umgekehrt zu haben. Models weisen Alleinstellungsmerkmale auf, aber Popstars sind zweidimensional. Ich betrachte Bilder von Taylor Swift, um sie mir einzuprägen. Sie setzen sich in mir ähnlich wenig fest wie die Konstruktion einer Künstlichen Intelligenz.
„Ich verstehe den Rummel um Taylor Swift einfach nicht“, sage ich zu meiner Frau.
„Du bist halt ein alter Mann“, antwortet sie.

 

mehr im Heft

 

Hinweis der Redaktion: „Now and Then“ ist mittlerweile Teil der kleinen Geschichte der Popmusik mit dem Titel „What goes up must come down“, erschienen im Bahoe Verlag. Infos finden Sie hier.

Bernhard Horwatitsch

Als Musik noch Bedeutung hatte

Drei kurz geschnittene Texte über Musik und Literatur.

1. Als Musik noch Bedeutung hatte
Charlie war gerade 17 Jahre alt und schon seit zwei Jahren abhängig vom Heroin, als er zu dem vier Jahre älteren Jay McShann und seiner Band stieß. Sie hatten einen Auftritt in Harlem, im Savoy Ballroom. Da kam Dizzy durch die Tür. Dizzy war so alt wie Jay und fragte einfach, ob er mitspielen könne. So kam es zur ersten gemeinsamen Aufnahme der Bebop-Dioskuren Charlie und Dizzy. Sechs Jahre später spielten sie gemeinsam in der New York Towns Hall. Unter anderem mit einem genialen Solo von Sid Catlett, der das Schlagzeug zum Werkzeug scholastischer Logik erhöhte, zu einem Parsimonium der Noten.

Der Bop war nun voll da und hatte den Swing in die Ecke gedrängt. Während in England das Dixie-Revival tobte und für Umsätze sorgte, bliesen, klopften und hüpften Charlies und Dizzys verminderte Quinten durch die Luft. Unvergessen ist Salt Peanuts und die  Vokalstimme von Dizzy. Denn das Wortpaar ist die perfekte Wiedergabe der verminderten Quinte und eine herrlich witzige und ironische Untermalung. Das ist jetzt auch schon 80 Jahre her. Jazz ist inzwischen eher Musik für alte Leute. Als der Bebop aufkam, waren viele Menschen entsetzt darüber. Man bewarf Charlie mit Schmutz und Spott.

 

mehr im Heft

Clemens Marschall

Exotica des Wahnsinns: Is it a dream – or a nightmare?

Eine einsame Insel, der Sandstrand unendlich, im Wellenrhythmus wogende Palmen spenden Schatten; die Geräusche der Wildnis und des rauschenden Meeres dringen aus dem Hintergrund, während tanzende Einheimische exotische Cocktails reichen: Willkommen auf Tiki Island!

Schade nur, dass man diese Insel auf der Landkarte vergeblich sucht. Sie ist kein geographischer, viel eher ein mentaler Sehnsuchtsort; ein Traum, der ab den 1950er
Jahren von der Westküste der USA aus wahrgemacht wurde: in Tiki-Bars, gefolgt von Tiki-Motels, Tiki-Bowlingbahnen, Tiki-Strip-Clubs und Tiki-Kinos. In denen wurden von der Tiki-Kultur inspirierte Filme gezeigt, etwa „Blue Hawaii“ und „Paradise, Hawaiian Style“ – beide mit Elvis Presley. Auch der King richtete sich in Graceland seinen tiki-esquen „Jungle Room“ ein – allerdings mit drei Fernsehern und anderem inselfernen Schnickschnack. Doch „Authentizität“ und „Tiki“ in einem Satz unterzubringen, das erfordert ohnehin einen breit angelegten Zerebralspagat; trotzdem gibt es in dieser obskuren Phantasiewelt einen gefühlten Sollzustand, und der speist sich aus verschiedenen Komponenten.

Eine wesentliche davon: in schmucken Tiki-Kelchen servierte, auf Rum basierende Cocktails, die an diesen eigenwilligen Orten erfunden wurden und sie zum Schwingen
bringen, etwa Mai Tai und Zombie. Hinter den Drinks steckt – neben der Suche nach dem ewigen Elysium – eine eigene Wissenschaft. Und hinter der Exotica-Musik, die diese Atmosphäre erst vollendet: zahlreiche Genies.

Übervater dieses musikalischen Genres war Les Baxter, ihm folgten phantasiebegabte Großmeister wie Martin Denny und Arthur Lyman, die Donnergroll-Prinzessin Yma
Sumac, der bizarr verkleidete Organist Korla Pandit und der wahrhaft übergeschnappte Kompositeur Juan García Esquivel. Zu ihren Biographien lieferten viele Aushängeschilder sagenhaft-schwindliche Artistenlegenden mit mehr Wunschdenken als verifizierten Stammbäumen. Wie die gesamte Tiki-Welt ist auch die Exotica-Musik ein Mischmasch aus unterschiedlichen Kulturen, aber sogar noch variabler und geographisch in keiner Weise begrenzt – selbst der Weltraum wurde erobert.

 

mehr im Heft

Wolfgang Gulis

Musik bleibt Trumpf

Antworten auf nicht gestellte Fragen.

Arpeggio

Ich muss ehrlich sagen, ich bin enthusiasmiert. Ich verneigemich vor dem Redaktionsteam und danke ihm von Herzen. Ich möchte euch alle einzeln umarmen, so freu ich mich. Ich überlege mir glatt, euch ein Lied zu widmen. Dass ihr euch das Thema ausgesucht habt! Als hätte ich es euch eingeflüstert, als wäre ich euch im Traum erschienen. Toll. Endlich kann ich einmal alles loswerden, was ich antworten würde, wenn ich zum Thema Musik befragt werden würde, was ja leider niemand tut.

Intro

Ich trinke bei Auftritten kaum Alkohol, höchstens ein Bier oder einen weißen Spritzer, und rauchen tu ich auch nichts. Was überraschend ist, wenn man die Szene ein wenig kennt. Ich möchte präsent sein. Ich möchte es genießen, mein Herz bis zum Hals klopfen hören und nicht auf der Bühne rumtaumeln. Andere mögen das vielleicht. Das ist nichts für mich. Klingt das puritanisch? Ist es auch. Aber live spielen ist an sich schon rauschhaft schön. Da brauch ich keinen zweiten Rausch.

 

Was im Gegensatz zum zuvor Gesagten jedoch kaum überrascht:

„Der LP- und CD-Verkauf bei den letzten beiden Produktionen war mau.“

„Geht eh allen so.“

„Aber dann muss ich das nicht auch noch wiederholen, nur weil der Markt es verlangt.“

„Wir sind eine Generation, die mit haptischen Tonträgern aufgewachsen ist?“

 

 

Die Vollversion des Textes finden Sie im Heft

Adi Traar

Mister Oberrevolutionär

Mal durch die feudalistische Brille eines einerlei wievielten Ludwig-Königs gesehen, könnte man sie samt und sonders von den Barrikaden holen, all die Strawinskys, Lennons, Davebrubecks, Carlphilippemanuelbachs, Claptonerics, sie der revolutionären Musikbetätigung anklagen und ihnen den Weg aufs Schafott weisen. Die  Feudalbrille, es ist eine goldene, abgelegt sind es indessen Siegespodeste, von denen man die Revolutionäre zerren müsste, auf solchen hat man sie es sich bequem einrichten lassen über die Zeit. Dort sind sie längst inthronisiert, pragmatisiert, dokumentarisiert, endgültig hinüberpensioniert. – Auch wenn das jetzt nach Wiener Verkleidungsoperette tönt, waren das schon Helden, diese Musikrevolutionäre weiland, regelrechte Cheguevaras, Nelsonmandelas, Martinlutherkings auf ihrem Gebiet.
Das Medium gab noch genügend her, die Musik war bei Weitem nicht fertigerfunden (jede Menge Patente würden noch eingereicht werden), keinesfalls waren die Klangräume abgeklopft bis in alle Ecken und darüber hinaus in die letzten Gehörgänge hinein.

Heutzutage wird eher das Einstmalige verherrlicht, wir halten uns an die Historie, die ist gutgeheißen und bestätigt von jedem einzelnen verstrichenen Jahr. Das bahnbrechende an den revolutionären Leistungen ist kaum noch jemand imstande nachzuempfinden, davon weiß man höchstens Bescheid. Auch eine Revolution kann in ihrer Wesensart am allerbesten erfasst werden, wenn sie gerade stattfindet. Sie ist, wenn sie ist und nicht war. Eine gewesene tut wie ein fauler Liebesapfel, auf das Aphrodisierende kann lediglich verwiesen werden; und auf die innewohnende Energie, die in der Nacherzählung eine bestenfalls innen-drinnen-schlafende ist. Aber ohnedies hat die Musik solcherlei revolutionäre Dünkel kaum noch nötig, sie braucht nicht beständig wachgeküsst zu werden, sie ist kein Froschkönig, sie ist definitiv
König, eigentlich Königin, sie bleibt es unter Garantie, ist unangefochten, egal, wie lange es her ist, dass sie jemand sich ausgedacht oder eingespielt hat.

 

mehr im Heft

Doris Neidl

My Melody

Ich muss ehrlich sagen, dass ich irgendwie eifersüchtig auf Musiker bin. Musiker, finde ich, sind nette Leute. Zumindest die, die ich kenne. Irgendwie sind sie „easy-going“, im Gegensatz zu den bildendenden Künstlern. Vielleicht liegt es daran, dass sie gemeinsam spielen, dass sie aufeinander angewiesen sind, während bildendende Künstler Einzelkämpfer sind. Ein Musikerfreund hat mir gesagt, dass ich mich da grundsätzlich täusche. Trotzdem. Es gibt nichts Langweiligeres als Vernissagen, alle sind cool und müssen zeigen, wie toll sie sind. Leider gehöre ich ja zu den bildenden Künstlerinnen und nicht zu den Musikerinnen. Aber irgendwie gehöre ich nirgends hin. Ich kann mich erinnern, als ich einmal zu einem befreundeten Architekten sagte, dass ich bei der Party nicht dazugepasst habe. Er meinte da nur: „Doris, du passt sowieso nirgends dazu.“ Ich könnte das natürlich auch als Kompliment sehen. Aber irgendwie stehe ich immer so alleine herum, schon als Kind. Auf allen Kinderpartyfotos sitze ich alleine,
zum Beispiel als Rotkäppchen.

Ich gehe auch am liebsten alleine ins Museum oder auf ein Konzert. Ich will dabei mit niemandem reden oder Kunst und Musik analysieren. Im Museum will ich zeichnen. Ein Freund, ein Musiker, wundert sich immer, warum ich Stunden im Museum verbringe und zeichne. Wenn ich versuche, ihm zu erklären, dass mich der Bildaufbau, konvex – konkav etc., interessiert, hört er zwar höflich zu, aber irgendwie merke ich, dass er dann schon ein bisschen ein fades Auge bekommt. Aber ich verstehe das. Denn wenn ich sage, dass ich nicht verstehe, wie Improvisation funktioniert und wie man weiß, wer wann was spielen muss, und er von „bars“ und „measures“, „licks“ und „erimprovisiertem Material“ spricht, kenne ich mich auch nicht aus.

 

mehr im Heft

Katharina Körting

Singen als Aufgabe

Für Sandra war das ganze Leben eine Aufgabe, unterteilt in kleine und größere Teilaufgaben. Jeder Tag war eine Aufgabe, ein großer Karren, an dem wie Waggons viele kleine Unterkarren hingen. Ihre Arbeit, Musik, die sie hörte, ihre Bewegungseinheiten – alles war eine Aufgabe. Auch Sex. Wenn die Erledigung Freude machte – umso besser, aber Freude war nicht das Motiv für die Erledigung. Das Sterben, dachte sie, wird irgendwann die letzte Aufgabe sein. Davor käme noch das Klarkommen, das sogenannte. Klar. Kommen. Bevor man ging. Aber daran mochte sie jetzt nicht denken. Jedes Gespräch mit einem Freund, jeder Kinobesuch, jeder Abend, den sie zu verbringen hatte, mit sich allein, mit den großen Kindern, mit den kleinen Sorgen oder mit anderen Menschen, sofern sie sich diesen gewachsen fühlte (eine interessante Umschreibung, fand sie: „sich gewachsen fühlen“), denn der Umgang mit Menschen war seinerseits eine Aufgabe, bei der es unendlich viele Möglichkeiten gab, Fehler zu machen. Fehler zu vermeiden und sich gewachsen zu fühlen, waren ebenfalls Aufgaben. Auch die sogenannte Liebe war eine Aufgabe. (Sie dachte „die sogenannte Liebe“
und kam sich lässig dabei vor – aber von ihrer Abgebrühtheit war sie selbst nicht überzeugt, denn natürlich glaubte sie fest an die nicht nur sogenannte Liebe, sonst hätte sie sich das Ganze ja schenken können.)

All diese Aufgaben stellten sich unaufhörlich in Sandras Lebensweg. Sie beschäftigte sich mit ihnen, um weiterzukommen, denn das schien das Ziel all der  Aufgabenbewältigung zu sein: vorwärts und aufwärts. „Kommst du gut voran?“, fragte man – nicht etwa „Schwingt es in dir?“ oder „Drehst du dich schön im Kreis?“. Sogar die scheinbar harmlose Frage „Wie geht es dir?“ schien nach vorne zu drängen. Sandra hatte das Nachvornedenken verinnerlicht, hatte es in jeder Körperzelle  abgespeichert, nach vorne und aufwärts musste es gehen, und weil das für eine über 50-Jährige eine Lüge war, ging es irgendwie nicht weiter. Sie steckte fest. Oder sie schob sich in sich zusammen, kreiselte, zuckte auf der Stelle, am falschen Bahnhof, auf dem kein Zug mehr fuhr.

 

mehr im Heft

Bianca M. Klein

Das Mousepad glüht

Verschwitzte Leiber gegen überhebliche Maschinen.

Bärte und lange Haare, schwarze Klamotten, verschwitzte Leiber. So wie der Schlagzeuger, aber er bringt weiterhin die Felle zum Beben, der Sänger treibt seine Stimmbänder immer weiter an, um das ohnehin schon kreischende Falsett in unbekannte Höhen zu treiben, die E-Gitarren untermalen den Ausbruch der rohen Emotion. Alle Anwesenden fühlen nur noch den Moment, das Miteinander, das Ineinandergreifen von Tönen und Schwingungen. Das völlige Ausflippen der Zuhörer. Voller Adrenalin. Ekstase. Ganz ohne Drogen. Zumindest für die meisten hier. Die harten Klänge nicht jedermanns Sache. Doch hier in dem verranzten Raum haben wir zwei Stunden geschaffen, die uns völlige Glückseligkeit schenkten. Wobei wir Metaller natürlich nicht solch rosa-gefärbten Worte verwenden. Jeder Einzelne an diesem Erlebnis beteiligt. Weil die Musik in unsere Zellen dringt und dort etwas anstößt, tief im Inneren. Ein Gefühl der Identität.

Leider sind Rock und Metal out. Das waren sie aber im Laufe der Jahrzehnte immer wieder mal. Ist uns aber egal. Denn es geht nicht um Mainstream. Sondern um das Gefühl. Ja, wir schwarzgekleideten Teufelsanbeter haben auch Gefühle. Doch eigentlich sind wir doch weiche Teddybären.

Das volle Eintauchen in die Musik. Das machen wir heute lieber mit dem Handy vor unserer Nase. Weil wir es sonst ja nicht erlebt haben, keine Beweise dafür für unsere stummen Zuseher auf den sozialen Medien. Dem Tode geweihte Videos, denn einmal am Handy, werden wir sie nie wieder ansehen. Hauptsache, wir haben sie. Wir wissen, dass sie da sind. Der Beweis, wie cool wir damals waren. Ja, war eh schön, ich habe viele Videos gemacht.

 

Die Vollversion des Textes finden Sie im Heft

Hans Koppelredder

Der „Beatles-Blockwart“

Die Beatles sind bis heute die meistgecoverte Band der Geschichte. Selbst noch beim Fußball ziehen wir zu ihren Melodien „den Bayern die Lederhosen aus“ – doch ein jeder kennt wohl das Problem: Nicht jede Hommage gelingt, nicht jeder Ton wird getroffen. Wer hat sich nicht schon einmal peinlich berührt gefühlt, wenn die „When I’m Sixty-Four“-Interpretation eines einsamen Solisten auf der Bühne des evangelischen Gemeindezentrums so richtig in die Hose ging? Wir treffen einen, der sich zum Ziel gesetzt hat, Ordnung in den unübersichtlichen Kosmos des Beatles-Coverns zu bringen: Hans Koppelredder.

Herr Koppelredder, Sie sind „Beatles-Blockwart“ – der Blockwart oder lediglich ein Blockwart?
Der. Bisher arbeite ich noch allein – und übrigens noch immer ehrenamtlich.

Und nennen sich „Blockwart“. Das klingt – mit Verlaub – ein wenig martialisch.
Mir ist schon klar, dass der Begriff natürlich mehrdeutig und in gewisser Hinsicht negativ belegt ist. Aber man kann zum Beispiel auch ein künstlerisches OEuvre als eine Art von „Block“ verstehen – und der ist eben in sich abgeschlossen, gerade bei den Beatles – sie haben sich schließlich schon vor über einem halben Jahrhundert aufgelöst. Ihr Block steht also, und zwar wie ein Fels. Und darauf passe ich auf, in quantitativer, vor allem aber in qualitativer Hinsicht.

Als „Blockwart“?
Der Titel oder die Berufsbezeichnung stammt nicht von mir. In meiner Jugend hat man versucht, mich mit ihr zu hänseln. Später habe ich sie mir dann bewusst zu eigen gemacht – und bin Schritt für Schritt in die Rolle hineingewachsen.

 

mehr im Heft

Doris Claudia Mandel

Stippvisite im Olymp

Am Morgen des 28. Aprils 1982, eines einigermaßen sonnigen Mittwochs, war ich mit dem „Rennsteigexpress“ der Deutschen Reichsbahn von Halle an der Saale nach Ost-Berlin, der „Hauptstadt der DDR“, unterwegs, weil ich knapp einen Monat vor der deutschen Erstaufführung des Volksoratoriums To Axion Esti, das ich unter enormem Zeitdruck nachgedichtet hatte, zur Uraufführung einer Sinfonie eingeladen war, der 3. Sinfonie für Sopran, Chor und Orchester, die wie das Volksoratorium aus der Feder des Griechen Mikis Theodorakis stammte. Ich schwöre: Es handelte sich wirklich um Theodorakis’ dritte Sinfonie, das ließ sich nachweisen. Bei den anderen Sinfonien war das mit den Zahlen so eine Sache. Einmal hatte mich Theodorakis gefragt, ob es irgendeinen vernünftigen Grund gäbe, warum man sich bei der Nummerierung seiner Werke sklavisch an die herkömmliche Zahlenabfolge halten solle. Tatsächlich veröffentlichte er zwei Jahre nach der dritten Sinfonie die siebente und wieder drei Jahre später die vierte. Aber das wussten wir damals noch nicht.

Ich wollte mir die Endprobe anhören, die an der Komischen Oper stattfinden würde, und dabei die Gelegenheit beim Schopfe packen, mit dem Meister ein paar Worte zu wechseln. Zu diesem Zweck musste ich mir erst einmal zweieinhalb Stunden lang die Beine in den Bauch stehen, weil im Zug natürlich kein Sitzplatz frei war. Zufällig begegnete ich im selben Waggon meinem Ex-Chef Dietrich Sommer, der an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg eine Professur für Literatursoziologie innehatte. Aus Gründen der Solidarität leistete er mir im Gang Gesellschaft, obwohl er einen Sitzplatz gehabt hatte.

 

mehr im Heft

Heimo Mürzl

Graz, Wien, München, Puch bei Weiz

Oder das große Ah(A)-Erlebnis.

Präludium mit ärgerlicher Anmutung.

Es ist nicht nur nicht besser geworden – es wird immer schlimmer. Was mir als passioniertem Konzertbesucher von Jahr zu Jahr mehr Verdruss bereitet. Immer wiederkehrende und wohl nie aussterbende Verhaltensweisen von nicht eben wenigen Konzertbesuchern lassen in mir jedes Mal den Verdacht aufkommen, dass sich viele Konzertbesucher gar nicht für die Musik oder den Künstler zu interessieren scheinen, sondern sich aus anderen Gründen am Ort des Geschehens befinden. Aus mir nicht nachvollziehbaren Gründen nutzen Konzertbesucher die Zeit dort nicht dafür, dem Künstler und seiner Musik ungeteilte Aufmerksamkeit und Wertschätzung entgegenzubringen, sondern für serielle Wanderbewegungen in Richtung freudespendender Getränke. Und das im 5-Minuten-Takt. Noch schlimmer – und das zerrt tatsächlich jedes Mal mehr an meinen Nerven! – sind die plappernden, quatschenden, zum Teil auch (sich an)schreienden – je lauter das Konzert, desto lauter die „Unterhaltungen“ – Konzertbesucher. Nicht zu vergessen, die rücksichtslosen (Vor-)Drängler und (Nach-)Schieber. Damit nicht genug, sorgen auch immer öfter die Künstler selbst mit dem schier endlosen Stimmen ihrer Gitarren oder dem nicht eben kurzweiligen Erzählen von Belanglosigkeiten – mein Freund Gerald S. bezeichnete das einmal sehr treffend als „Überbrückungsmonologe“ – bei mir für einen Zustand fortgeschrittenen Unwohlseins und anschwellenden Ärgers. Und dennoch bin ich sehr froh, dass es sie gab – meine Konzertbesuche im Jahr 2023.

 

 

Die Vollversion des Textes finden Sie im Heft

Elisabeth Wandeler-Deck

Anlandebahnen für Geräusche

Abends, bei milder Temperatur, auf der langen Bank.

visit. Die Frau mit dem Zuckerhut setzt sich auf Sitz Nummer 54 und blickt zurück, sie expliziert dieses ihr eigene Zurück ausführlich, das Zurück hält, an, schwindet helles rauschen mit zwei impulsen2 und schwindet, verschwindet, nein, noch ist sie da, stolpert, stolpernd, sie setzt sich, setzt sich um, blickt, als ob sie, sähe, etwas sähe, etwas erblicke, sie schaut, im Aufmerken schaut sie, reibt mit beiden Händen über das Gesicht, schaut, schlummert weg. Die Reihen leeren sich. Man setzt sich auf die nummerierten Plätze, man hält sich an die Vorgaben, während man sich umsieht, man schaut sich um, stolpert, setzt sich, setzt einander zu, setzt sich zu einander hin, man setzt sich, man bleibt, man steht auf, geht, man lässt vom Hinsetzen ab, man bleibt gesetzt, die Nummer setzt fort was auch immer, eine Folge, eine Reihe, ein Nach, ein Hinzu, es gibt Regeln, die Regel ergibt, die Regel gibt dieses, jenes, der Kleine, ein Mann mit hellen, hellgrünen, Augen, steuert auf Nummer 52 zu, so sieht es aus, so sehen die Augen aus, wenn schräges Licht auf Gesichter fällt, es geht gegen Abend, es ist Sommer, später Abend schon, Applaus, die Vorstellung zu Ende etc. die Reihen lichten sich, jaja, so weit, so weit, geht, geht, fällt, das Licht, fällt, brennt, schlägt zu, man müsste gehen, man müsste weg, man geht, eine geht, einer geht, es sind Menschenfiguren, sie gehen rasch, sie laufen, auf eines der Häuser um den Platz das Haus die Stellage der Bilder im Bild das Haus die Dachkante Traufe die Gestelle die Anzeigetafeln Werbeplakate Werbeschreie das, Bild im Bild der Hund das Tier das jeder, auch ist ich, bin, bin bin, Tiermensch Menschtier das, Licht gibt, nach wird, weicher legt, sich die Hitze legt, sich in den Sand der, Duft der erhitzten Wachsmasse du ziehst ihn ein lässt dich, ein, her, …

 

 

Die Vollversion des Textes finden Sie im Heft

Wolfgang Pollanz

Vom Everest nach Abbey Road

Über Zebrastreifen und versteckte Zeichen.

Eigentlich war es ja meine ursprüngliche Intention gewesen, ein, wie ich es nennen wollte, „popmusikalisches ABCarium“ zu verfassen, also „Anmerkungen zur Popkultur“ in 26 Kapiteln in alphabetischer Reihenfolge. Dass daraus nichts geworden ist, hat seine Gründe, aber im Sinne dieser anfänglichen Absicht steht jetzt hier nach dem sich als Ende dieses kleinen Kompendiums mit Essays als Schlusspunkt irgendwo logisch aufdrängenden Text über „das letzte Lied“, also über den Song, der zu meinem  Begräbnis gespielt werden soll, auch noch einer über den berühmtesten Zebrastreifen der Welt, um diesem Buch auf diese Weise eine Art von Klammer zu geben, das Thema „Arschlöcher“ am Anfang, der Zebrastreifen am Ende. Es ist – Sie werden es, verehrte Leserin, verehrter Leser – schon vermutet haben, jener im Londoner Stadtteil Westminster in der Abbey Road 3, Ecke Grove End Road, der seit Dezember 2010 unter Denkmalschutz steht und den man über eine Webcam weltweit ebenso sehen kann wie all die London-Touristen, die ihn besuchen, diesen überqueren und sich dabei fotografieren lassen, der Autor dieser Zeilen eingeschlossen.

Aber wie war es überhaupt zu dem berühmten Foto auf dem Cover des letzten Albums gekommen, das die Beatles gemeinsam aufgenommen haben, ihrem elften, dem  danach nur noch „Let It Be“ folgte, das zwar vorher eingespielt, aber erst im Mai 1970, einen Monat nach der offiziellen Auflösung der Band, veröffentlicht wurde? Paul McCartney hatte die Idee gehabt, die Platte „Everest“ zu nennen, für ein Fotoshooting sollte die Gruppe, die längst zerstritten war und kurz vor ihrer Auflösung stand, in das Himalaya-Gebiet reisen, eine Idee, die möglichweise damit zu tun hatte, dass solch ein gemeinsamer Trip nach Fernost sie wieder zusammenschweißen könnte. Dabei war der geplante und schließlich verworfene Titel nur eine Anspielung auf die Zigarettenmarke „Everest“ des Toningenieurs Geoff Emerick gewesen. Weil keiner seiner Kollegen sich für die erste Idee erwärmen konnte, hatte McCartney eine weitere. Sie sollten einfach raus aus dem Studio gehen und dort fotografiert werden, während sie über den Zebrastreifen liefen. Genau das passiert dann am 8. August 1969, um 11h30 Greenwich Time steht der Fotograf Iain McMillan mit einer Leiter und seiner  Hasselblad-Kamera vor dem Zebrastreifen bei den Abbey-Road-Studios, ein Polizist hält den Verkehr auf. Einen Tag, nach dem dieses Foto, das zu den berühmtesten der Rockgeschichte gehört, fast wie zufällig entstand, ermordete die Manson-Family Roman Polanskis Frau Sharon Tate, eine Woche später begann das Woodstock-Festival, das zugleich Höhepunkt und Ende der Ära ist. Organisator Michael Lang hatte dafür auch die Beatles angefragt, allerdings vergeblich. Zwölf Tage später wird die berühmteste Band der Welt zum letzten Mal gemeinsam im Studio stehen.

 

mehr im Heft

Dieser Text erscheint im Mai 2024 in Wolfgang Pollanz‘ Buch „Von Arschlöchern, weißen Fahrrädern, Scheißfilmen und Zebrastreifen. Anmerkungen zur Pop-Kultur“, dem Band 10 der Reihe „Pop! Goes the Pumpkin“ der Edition Kürbis. Weitere Infos auf www.kuerbis.at.

Das Buch ist mittlerweile erschienen und kann hier erworben werden.

 

Peter Campa

Anatol und die Musik

Noch war er ja ein Kind. So dachte er auch über sich selbst. Nein, er wolle gar kein Plakat von Conny und Peter, er war ja erst zehn und noch nicht dreizehn. Er wollte auch kein Eis essen und brav bleiben, solange es ging.

Dies sollte sich nach wenigen Jahren ändern. Für ihn waren das aber nicht wenige Jahre. Mit zwölf begann er wieder, mit der elektrischen Märklin-Bahn, die er im Alter von fünf Jahren zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte, zu spielen und auch den Matador-Baukasten packte er wieder aus. Mit dreizehn begann er, die Hitparade zu hören, eines der ersten Lieder war „Yellow Submarine“ von den Beatles, was aber auch nicht ganz anständig war. Aber es gab viel ärgere Musik, diese würde er sich nie anhören, nahm er sich vor, etwa Jimi Hendrix Experience. Doch zwei Jahre später gewann er ausgerechnet bei der unschuldigen Schülerzeitung Optimum eine Eintrittskarte für ein Konzert von gerade dieser Formation. Nach dem Konzert versuchte er sich innerlich reinzuwaschen, obwohl es ihm noch in den Ohren dröhnte, und er wollte wieder in seine Kindheit zurückkehren.

Mit der Peinlichkeit ging es allerdings weiter. In seiner Kindheit war ihm die Schönheit des Menschen peinlich. Ein Mensch war doch nicht schön. Tiere gefielen ihm viel besser. Darum las er in den Micky-Maus-Heften nur selten die Geschichten von Klein-Adlerauge. Denn da kamen Menschen vor. Wenn er mitunter gefragt wurde, ob er ein Eis essen wolle, schämte er sich und sagte, er wolle gar kein Eis.

 

mehr im Heft

Sibylle Severus

Die kühne Farbe eu

Abgelehnter Beitrag (Altersgrenze!) für den Mauricio Kagel Kompositionswettbewerb 2024.

Besetzung: eine Sprechstimme (solo oder für mehrere Altstimmen) mit all ihren Möglichkeiten.

 

Altstimme oder Altus (Countertenor):

Die Welt ist voll von Leuten, die nichts anderes tun, als Musikinstrumente zu erfinden. Warum hätte nicht auch ich, für Sie, Herr Professor Kagel, ein Instrument kreieren sollen. Obwohl Sie Ex-Cellist sind, besitzen Sie kein Violoncello. Jedenfalls hatten Sie das erzählt, als wir nach dem Konzert zusammenstanden.

„Oh“, hatte ich gerufen, „Sie, gerade Sie, ein Komponist, müssten doch ein ganz besonderes Instrument haben!“

Sie hätten es in einer außerordentlichen Situation verkauft, hatten Sie gesagt, und besäßen seit Langem kein Cello mehr. So etwas trifft mich ins Herz. Hilfesuchend hatte ich in die Gesichter der Umstehenden geschaut: ein gediegener Kreis von Kulturleuten – alle kleiner als Sie, physisch meine ich. Und niemand hatte das geringste Mitgefühl gezeigt.

 

Die Vollversion des Textes finden Sie im Heft

Daniel Wisser

Die unhörbare Musik des Ostens

1. Gabel
Kaum jemand wusste, dass der Änderungsschneider Baldauf über dreihundert Walzer komponiert hatte, die allesamt kein einziges Mal aufgeführt worden waren. Baldauf wurde erst durch das Verschlucken einer Gabel zu einer Berühmtheit ersten Ranges. Er besaß eine so merkwürdig konstruierte Kehle, dass er zum Erstaunen seiner  Kunden in der Schneiderei immer wieder eine dreißig Zentimeter lange Schere bis an den Griff in seinem Mund verschwinden ließ. Bei einem sommerlichen Zeltfest in Maria Elend nahm Baldauf zur Abwechslung eine Gabel zur Hand und steckte sie tief in seine Kehle, bis er nur mehr die Zinken mit zusammengebissenen Zähnen hielt und schließlich den Mund schloss. Als er aber die Gabel wieder hervorbringen wollte, machte er einen tiefen unfreiwilligen Atemzug und die Gabel glitt in seinen Magen hinab. Dieses Vorkommnis rief im Festzelt von Maria Elend und in der ganzen medizinischen Welt großes Aufsehen hervor. Baldauf, der von der Gabel zuerst nur belästigt wurde, wenn er sich im Schlaf drehte oder seine Lage änderte, komponierte einen Walzer, den er den Gabel-Walzer nannte. Infolge der auf das Material einwirkenden Magensäure stellten sich nach einiger Zeit allerdings Vergiftungserscheinungen ein und Baldauf musste sich einer Operation unterziehen. Die Operation glückte so gut, dass er danach fünfundzwanzig Jahre gesund weiterlebte, Hosen flickte, Hemdknöpfe annähte, Mäntel und Röcke kürzte und an die vierhundert weitere Walzer komponierte, die ebenfalls alle niemals einem Publikum zu Gehör gebracht wurden. In all diesen Jahrzehnten sah niemand einen Zusammenhang zwischen der Unhörbarkeit von Baldaufs Walzern und seiner Fähigkeit des Verschluckens großer Gegenstände. Erst Schockemöhle hat bei einer Cocktailparty in illustrer Runde auf diesen Umstand hingewiesen und damit große Beachtung gefunden. Als er jedoch auch noch auf die Bedeutung von Baldaufs Tätigkeit als Änderungsschneider für seine Musik hinwies, fanden die meisten, Schockemöhle sei nun zu weit gegangen.

 

Vorabdruck aus
Daniel Wisser: Unter dem Fußboden.

Eine Sammlung von Erzählungen, die auf der Webseite des Autor periodisch veröffentlicht wird: www.danielwisser.net/unter-dem-fussboden/

Die Texte von 2009-2023 erscheinen am 20.02.2024 gesammelt als Buch im Klever Verlag
Daniel Wisser: Unter dem Fußboden. Gesammelte Erzählungen 2009 – 2023
Wien (Klever Verlag) 2024, Hardcover 246 S.

Sie können das Buch hier erwerben

 

 

mehr Im Heft

 

Rezensionen

Buch

Stefan Schmitzer:
loop garou – invokationen

2024: Ritter, S. 96
rezensiert von Sophie Reyer

Differenzwiederholungen vom Feinsten „loop garou – invokationen“ – diesen Titel trägt Stefan Schmitzers neuer Lyrikband – und jenes besondere Wortspiel zu Beginn, das einerseits auf den französischen Werwolf („loup garou“),

Buch

Priya Guns:
Dein Taxi ist da

2023: Blumenbar, S. 329
rezensiert von Lisa Höllebauer

Rezension: Eine Taxifahrt durch Welten Wie der Titel bereits ankündigt, erwarten Sie hier bestimmt eine klassische Rezension – und ich verspreche, die kommt auch noch – aber einleitend muss ich

Buch

Kulturinitiative Kürbis Wies (Hg.):
Der Mann, der sich weigert, die Badewanne zu verlassen

2022: Edition Kürbis, S.
rezensiert von Hermann Götz

Der Geist von Wolfgang Bauer … … zu Gast in der schreibkraft-Redaktion. Mit einem Open Call for Minidramen hat die Edition Kürbis einen Coup gelandet: Über 160 Einreichungen zelebrierten vor

Buch

Günther Kaip:
Rückwärts schweigt die Nacht

2022: Klever, S. 140
rezensiert von Stefan Schmitzer

Vergessen, surreal erinnert Günther Kaip verdichtet Lyrik, Prosa und Zeichnungen zu einem traumhaften Ganzen. „Rückwärts schweigt die Nacht“ – der Titel verräumlicht gewissermaßen, was beim Vergessen mit der gelebten Zeit

Buch

Sabine Haupt:
Die Zukunft der Toten

2022: die brotsuppe, S. 216
rezensiert von Hermann Götz

Dreizehn Sabine Haupts Erzählband „Die Zukunft der Toten“ macht Stippvisite auf der dunklen Seite des Mondes. „Jemand musste ihn verraten haben, oder verleumdet, vielleicht auch nur verwechselt.“ Kommt Ihnen bekannt

Buch

Sarah Kuratle:
Greta und Jannis

2021: Otto Müller, S. 232
rezensiert von Hermann Götz

Vom Anfang oder Ende der Zeit Sarah Kuratles märchenhaft dichter Roman Greta und Jannis. Sarah Kuratle hat ein Märchen geschrieben. Oder nein: einen Roman. Einen ganz und gar märchenhaften. Die

Buch

Markus Köhle:
Zurück in die Herkunft

2021: Sonderzahl, S. 208
rezensiert von Hermann Götz

Best of Poetry Markus Köhle wird in Zurück in die Herkunft zum Plagiatsjäger seiner selbst. Ok, über Slam-Poetry bedarf es hier keiner großen Worte. Dass Poesie als performative Kunst gelebt

Buch

Wolfgang Pollanz:
Wie ein Rabe. 66 Song- Stories.

2021: TEXT/RAHMEN, S. 228
rezensiert von Hermann Götz

Paperback Writer Der Song als Story oder was passiert, wenn Wolfgang Pollanz Bob Dylan & Co in Prosa übersetzt. Weltberühmt in der Steiermark ist wahrscheinlich eine zweifelhafte Einordnung. Auf Wolfgang

News

Up and coming
Werner Schandor: Flüchtiges Spiel

schreibkraft-Gründer Werner Schandor veröffentlicht seinen neuen Roman. Die Geschichte eines Spielers im Umfeld von politischen Entscheidungen, Mauschelei und viel Geld. Ein packend erzählter Roman, hypnotisch wie der Lauf der Kugel

Hans Platzgumer veröffentlicht eine kleine Geschichte der Popmusik

Hans Platzgumer, Romanautor, Essayist, Komponist, hat seit den 00er-Jahren den Schwerpunkt seines künstlerischen Schaffens weg von der Musik (KÖB, HP Zinker, Die Goldenen Zitronen, Convertible, to name a few), hin

Spotlight

Kulturland retten

Die kulturelle Zukunft des Landes Steiermark ist bedroht! Durch die schon seit Jahren sinkenden Kulturförderbudgets des Landes sowie die mangelnde fachliche Kompetenz und eine parteipolitische Besetzung des neuen Kulturkuratoriums des Landes Steiermark riskiert die Politik eine Zerschlagung der steirischen Kulturlandschaft. Dabei ist unser Land dringend auf Kunst & Kultur angewiesen: Als Werkzeug der Regionalentwicklung, als soziales Bindemittel und kritischer Spiegel, als Arbeitgeber:in und Wirtschaftsfaktor. Wir sagen Nein zu dieser kurzsichtigen Kulturpolitik und fordern eine nachhaltige Verbesserung der Rahmenbedingungen!
Haben Sie Fragen oder möchten Sie ein Heft erwerben? Anfrage senden

Hefte

Heft 43: über musik

Robert Zimmermann kann nicht gut singen. Mundharmonika und Gitarre spielt er auch nicht soooo toll. Aus diesem Grund hat er auch den Literaturnobelpreis bekommen. Und nicht den Polar-Music- oder den

Heft 42: über literatur

Nein nein nein! Die schreibkraft ist keine Literaturzeitschrift. Davon gibt es eh genug. Insbesondere in Graz, der Hauptstadt hoffnungsfroher Manuskripte und nach Publikation und Perspektive lechzender Poesie, der Lichtungen im

Heft 41: wir sind lesenswert

Sie halten Heft 41 der schreibkraft in Händen. Dieses Heft ist zugleich die erste Ausgabe in der Geschichte der „schreibkraft“, die ausschließlich literarische Texte beinhaltet, denn diese Ausgabe ist ganz

Heft 40: verstörend

Es ist schon erstaunlich (und verstörend zugleich), wie lange der Mensch bereits auf Erden existiert, wie viele Jahrtausende er es geschafft hat, dieser Erde keine allzu großen Probleme zu bereiten

Heft 38: aus der welt (Doppelnummer 38/39)

„Immer dort wo Du bist bin ich nie.“ Eleganter als in diesen Zeilen, die Sven Regener für seine Band Element of Crime in anderem Kontext getextet hat, könnte man die

Heft 36: ordinär
(Doppelnummer 36/37)

Das Zauberwort pandemischer Tage heißt „Normalität“. Eben noch, also vor der Corona-Phase, das gering geschätzte Synonym für Fadheit par excellence, avanciert erlebte Norm neuerdings zum Sehnsuchtszustand. Für viele ist sie

Heft 35: bitte wenden

Braucht es zum Wandel eine Krise als Impuls? Liebhaber österreichischer Weinkultur werden dem jedenfalls zustimmen. Der sogenannte Glykolskandal war hierzulande bis jetzt das beliebteste Beispiel für die  Wiederauferstehung einer ganzen

Heft 34: geht's noch?

Aber sicher! Das zumindest würde die schreibkraft-Redaktion dieser – doch allzu oft rhetorisch gemeinten – Frage zunächst entgegenhalten. Um sie, die Frage, dann doch ernst zu nehmen. Wir fragen also

    Anfrage

    Möchten Sie ein Heft bestellen?
    Bitte geben Sie die Heft-Nr. und Ihre Adresse an:

    Ihre Kontaktdaten werden zum Zweck der Kontaktaufnahme im Rahmen dieser Anfrage gespeichert. Mit dem Absenden dieses Formulars stimmen Sie dieser Verwendung zu. Weitere Informationen finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.